Klima Kultur
Landschaft

Temperaturen steigen, Extremwetterereignisse nehmen zu, Niederschläge verlagern sich in die Winterzeit und die Vegetationsperiode verschiebt sich. Aber nicht nur der Klimawandel stellt die bisherige Praxis der Landwirtschaft vor grundlegende Herausforderungen, sondern auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die steigende Abhängigkeit von globalen Entwicklungen. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft muss daher künftig mehrdimensional gedacht werden, um sich den Veränderungen anzupassen, aber auch um Klimaschäden zu minimieren und gleichzeitig wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Konsequenz dieses mehrdimensionalen Transformationsprozesses ist die Neubewertung unserer Landwirtschaft, ihrer Funktion, Nutzung, Produkte und Akteur:innen. Gefragt sind nicht nur die Landwirt:innen allein, sondern wir als Gesellschaft.

Am Beispiel von Kannawurf, einer Gemeinde im Thüringer Becken, wurde dazu ein landwirtschaftliches Zukunftskonzept entworfen, das ökologische, ökonomische und soziokulturelle Strategien gleichermaßen betrachtet. Entstanden ist ein Zukunftsbild für eine klimagerechte Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts, dass mit neuen Klimalandschaftstypologien, einem überbetrieblichen Fruchtfolgenmanagement und mit künstlerischen Interventionen die Land(wirt)schaft anders in den Blick nimmt.

Gefördert wurde das Vorhaben vom 2019-2021 durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums: Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete (ELER) und den Freistaat Thüringen. Von 2021 bis 2023 wurde mit einer Anschlussförderung als Teilmaßnahme A — Tätigkeit von operationellen Gruppen der Europäischen Innovationspartnerschaft ›Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit‹ das Innovationsteilprojekt "Keyline-Design" als neues nachhaltiges Wassermanagementsystem auf einer konventionell bewirtschafteten Hangfläche modellhaft erprobt.

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Ökonomie: Status Quo
Ökonomie

Welchen Einfluss hat die Gesellschaft auf die Entwicklung der Landwirtschaft?

Entwicklungen der Motorisierung, der Kunstdüngung und im chemischen Pflanzenschutz veränderten seit den 1950er Jahren in nur wenigen Jahrzehnten die Agrarwirtschaft nach den Grundprinzipien der industriellen Produktion und damit auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Stadt und Land. Der Arbeitsaufwand reduzierte sich um mehr als 90 Prozent, der Anteil der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft ist von 40 Prozent auf weniger als zwei Prozent geschrumpft. Gleichzeitig ist die Produktivität gestiegen: Ernährte ein Landwirt vor etwa 100 Jahren noch vier Menschen, sind es heute fast 140.

Quelle: DBV, Situationsbericht 2021/22

Mit der Schrumpfung landwirtschaftlicher Arbeitskraft durch die Modernisierung setzte auch die Abwanderung von Arbeitskräften in die Städte ein. Landflucht ist schon ein Thema des frühen 19. Jahrhunderts, als sich arme Bauernfamilien, befreit von der Feudalherrschaft, aber ohne Grundbesitz, in ein vermeintlich besseres Leben in die Stadt aufmachten. Mit dem „Strukturbruch“ in den 1960er Jahren geriet die Abwanderung aus dem ländlichen Raum erneut in den Blick, der man diesmal mit einer Modernisierung der sozialen, kulturellen und technischen Infrastruktur entgegenzuwirken versuchte. Mit der Jahrtausendwende und den anhaltenden Innovationen in den Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen, setzte die Abwanderung erneut ein. 

Quelle: DBV, Situationsbericht 2021/22

Heute ist die Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte und Unternehmensnachfolger:innen eine der größten Herausforderungen. Knapp die Hälfte der landwirtschaftlichen Einzelunternehmen in Thüringen werden von 55-jährigen oder älteren Betriebsinhaber:innen geführt. Bei ¾ der Betriebe ist die Weiterführung des landwirtschaftlichen Betriebes ungewiss oder es gibt keine Nachfolger:innen. Gründe dafür liegen in veränderten Lebens- und Arbeitsansprüchen sowie an den teilweisen geringen Verdiensten vor allem als Angestellte. Gleichzeitig stellt der Zugang zu eigenem oder gepachtetem Land ein erhebliches Problem vor allem für Junglandwirt:innen dar. Die Betriebe und Flächen sind oft zu groß und die Übernahmen und Preise zu teuer.

Quelle: DBV, Situationsbericht 2021/22

Das wertvolle Gut Boden ist stark begehrt. Energie- und Nahrungsmittelproduktion, der Siedlungs-, Gewerbe-, Logistik- und Straßenbau, der Naturschutz, der Hochwasserschutz, der Landschafts- und Ressourcenschutz und der Tourismus konkurrieren darum. Nach Europäischer Vereinbarung soll der tägliche Zuwachs der Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland bis 2020 auf 30 Hektar zurückgehen. Das Ziel für Thüringen wäre dementsprechend eine Reduktion des täglichen Zuwachses auf circa 1 Hektar. Bis 2004 wurde dieser Zielwert erreicht, seitdem steigt er an. In 2019 lag der Wert bei 1,9 Hektar/Tag. Den größten Verlust an Fläche verzeichnen dabei die Wiesen- und Weidenflächen.

Quelle: TLL, Landwirtschaft in Thüringen, 2016

Von den 16.202 Quadratkilometern an Bodenfläche Thüringens sind rund 54 Prozent Landwirtschaftsfläche. Mehr als die Hälfte der Landwirtschaftsfläche Thüringens wird von 6 Prozent der Betriebe bewirtschaftet. Diese verfügen über eine durchschnittliche Flächenausstattung von 1.000 Hektar und mehr, die durchschnittliche Betriebsgröße liegt bei 1.785 Hektar. In Thüringen weicht die Agrarstruktur infolge der historischen Entwicklung vom Bundesdurchschnitt ab. Im heutigen Freistaat wurde in den 1950er Jahren die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) der DDR gegründet – eine zunächst freiwillige, später Zwangskollektivierung der Bauern, die zu einer Umstellung der bäuerlichen hin zu einer sehr großflächigen, industriellen Landwirtschaft in der gesamten DDR führte. So ist in Thüringen mit 209 Hektar Landwirtschaftsfläche die mittlere Betriebsgröße knapp dreimal so hoch wie der Bundesdurchschnitt mit 60 Hektar/Betrieb.

Quelle: TLL, Landwirtschaft in Thüringen, 2016

Der landwirtschaftliche Bodenmarkt ist deutschlandweit von steigenden Grundstücks- und Pachtpreisen geprägt. Preistreibende Faktoren sind die internationale Niedrigzinspolitik, die steuerrechtliche Begünstigung von Anteilskäufen sowie die an Höchstpreisen orientierte Privatisierung von Flächen durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG). In Thüringen sind gleichzeitig von den 774.830 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche circa 75 Prozent Pachtflächen. In den neuen Bundesländern konnten Flurbereinigungsverfahren bislang nicht flächendeckend erfolgen. Mit Hunderten von Pächter:innen müssen in regelmäßigen Abständen immer wieder Einzelpachtverträge ausgehandelt werden. Das führt zu ökonomischer Unsicherheit, weniger Flexibilität in der Erprobung neuer Anbaumethoden oder langfristiger Umstellungen. Zudem bedeutet es einen hohen Kommunikationsaufwand. Abhängig von der regionalen Bodenwertlage fließt indirekt ein Teil der EU-Direktzahlung deshalb an die Verpächter und nicht an die Landwirt:innen.

Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen, 2021

Beziehungen zur eigenen Scholle. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Beziehungen zur eigenen Scholle. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Mein Ur-Großvater zum Beispiel war Fuhrunternehmer. Der hat damals in Kannawurf schon Äcker bestellt für Leute, die in Sömmerda in der Industrie gearbeitet haben. Die also auch Anfang des 20. Jahrhunderts schon gar nicht mehr die Zeit hatten. Die haben dann zwar mitgeholfen bei der Ernte, aber den Großteil haben Leute wie mein Ur-Großvater gemacht.“
Thomas Flemming

Die Veränderungen in Landwirtschaft und Landschaftsbild stehen in Wechselwirkung mit dem sozialen und ökonomischen Wandel. Während bis zur Industrialisierung die Landwirtschaft vor allem der Selbstversorgung diente, arbeiteten schon Anfang des 20. Jahrhunderts viele Kannawurfer in Fabriken der Umgebung. Trotzdem gab es bis nach dem II. Weltkrieg viele Kleinbauern. Ab 1960 traten die meisten teils freiwillig, teils unter Zwang, in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ein und hörten auf, das eigene Land zu bestellen. Trotzdem lieferte die Subsistenzwirtschaft in der DDR ein wichtiges Zubrot. Peggy Hessler erinnert sich gerne daran, wie ihre Familie ein kleines Stück Land an der Wipper bewirtschaftete. „Meine Großeltern hatten damals einen Garten vorm Wipperdamm und noch ein Stückchen Land dahinter, wo wir dann immer Knoblauch oder Zwiebeln oder Runkeln angebaut haben. Das wurde in die Sammelstellen gebracht. Das kenne ich auch noch, dass wir da immer mit rumgesprungen sind. Das war richtig schön.“

Die selbst erzeugten Produkte dienten nicht nur der Selbstversorgung, sondern wurden auch in die Städte geliefert. Staatliche Subventionen ermöglichten Klein- und Hobbybauern gute Erlöse. Ein Kilogramm Kirschen brachte zwei Mark und ein Ei einen Groschen, erinnert sich die 1957 geborene Brita Hochheim, die wie Elisabeth Ernst in den 1980er Jahren in der Buchhaltung der LPG "Neues Leben" arbeite. „Für ein Kaninchen hast du 50 Mark gekriegt. Mehr Geld, als du im Laden bezahlt hast.“ Dieser Nebenerwerb endete jäh mit der Wiedervereinigung. „Weil keiner mehr welche wollte,“ sagt Brita. „Wo wolltest du hin damit?“ Von ihren etwa 240 Kollegen bei der LPG mit ihren drei Standorten in Kannawurf, Sachsenburg und Bilzingsleben, schätzt Brita Hochheim, wurden in den 1990er Jahren über 200 entlassen. Auf die eigenen Felder kehrten einige, aber nicht viele zurück.

Wie wird in der Landwirtschaft heute gearbeitet?

Die über Jahrhunderte alte integrierte Tier- und Feldwirtschaft als standortabhängige, nachhaltige Kreislaufwirtschaft wurde zugunsten einer industriellen Produktion unter Einsatz externer Dünge-, Pflanzenschutz- und technisch-motorisierter Mittel ab den 1960er Jahren aufgebrochen. Die Feldarbeit wurde damit stark vereinfacht, die Produktivität gleichzeitig erhöht und der Wohlstand der Landwirt:innen gesteigert.

Quelle: i.m.a., Landwirtschaft im Wandel, 2016

Weil der Leguminosenanbau für den Tierbetrieb und damit Gülleproduktion durch neue mineralische Düngemittel ersetzt wurde, konnte die Viehhaltung von der betrieblichen Eigenerzeugung entkoppelt werden. Die Höfe entwickelten sich so zu reinen Ackerbau- oder reinen Viehbetrieben. Im weiteren Verlauf ist so eine hochproduktive und spezialisierte Landwirtschaft für einen globalen Massenmarkt entstanden. In Thüringen werden laut dem Thüringer Landesamt für Statistik in 2021 beispielsweise 80 Prozent der Schweine von reinen Tierbetrieben gehalten, die durchschnittlich einen Schweinebestand je Betrieb von 14.445 Tieren haben. Die Agrarwirtschaft ist heute Produzent und Konsument für den globalen Markt gleichermaßen. So wird das (patentierte) Samengut für die Gemüsepflanze in Asien produziert, die Jungpflanze wird in Holland angezogen, der Humus stammt aus Russland und der Mineraldünger aus Osteuropa genauso wie ein Teil saisonaler Arbeitskräfte. Das gleiche Prinzip gilt für die Lagerung, die Weiterverarbeitung, die Logistik bis hin zum Verkauf. Der vormals integrierte Ablauf ist heute auf viele spezialisierte und global verortete Betriebe verteilt.

Mit fahrerlosen Traktoren, eigenständigen Melk-und Stallrobotern, der zunehmend virtuellen Vernetzung aller Arbeitsprozesse im Betrieb bis hin zu Genetic Engineering ist die Zukunft auf dem Acker längst Realität. Unter dem Begriff „Precision Farming“ wird eine landwirtschaftliche Arbeitsweise bezeichnet, einen Acker nicht einheitlich zu bearbeiten, sondern kleinste Teilflächen und pflanzenbezogen genau nach Bedarf. Sensoren bestimmen den Bodentyp und den Nährstoffgehalt, Drohnen erfassen den Ertrag und Schäden, Computerprognosemodelle zeigen Szenarien von Schädlingsbefall auf und kamerageführte Geräte jäten präzise Unkraut. Der Landwirt wird zum IT Experten.

Quelle: DLG-Merkblatt 447, 2019

Vom Verschwinden der lokalen Geschäfte. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Vom Verschwinden der lokalen Geschäfte. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Man verbindet mit Landwirtschaft: Gemüse muss billig sein. Aber so ist es ja gar nicht. Es steckt so viel Arbeit und auch so viel schwere körperliche Arbeit drin.“
Elisabeth Henfling

Seit der Wiedervereinigung haben in Kannawurf viele Geschäfte aufgegeben. Von drei Bäckereien ist nur noch die Bäckerei Surber übrig. Die Filiale der Fleischerei Holzapfel schloss 2018. Das Lebensmittelgeschäft Gonnermann drei Jahre vorher. Gerade die Älteren leiden unter dem Verlust. Er wird zwar durch fahrende Fleischer- und Bäckereien abgefedert, diese haben aber auch zum Verschwinden der Geschäfte beigetragen. Jetzt gibt es neben der Bäckerei noch den Baumarkt Hirsch, den Landwarenhandel der Schaumburgs und die Gärtnerei Vogt.
Dreiviertel von 1,5 Hektar Freifläche der Gärtnerei liegen brach. Früher war das anders. „Gemüse vor allem, Obst weniger. In den 1970er Jahren bis Ende der 1980er Jahre, da haben wir Blumenkohl angebaut, Kohlrabi. Sellerie war fast so ne ganze Seite, wie hier die Gartenseite ist. Freilandgurken noch, schon im großen Stil," rekapituliert Elisabeth Henfling, Leiterin des Familienbetriebs in der vierten Generation.

Nur ein geringer Teil des Gemüses wurde damals im Dorf verkauft. Ein größerer Teil vertrieb die Gärtnerische Produktionsgenossenschaft in den näheren Städten, der Rest ging über die Sammelstellen in die Bezirkshauptstadt Halle (Saale). Seit den 1990er Jahren aber schwanden die Abnehmer. Die Genossenschaft zerfiel und die Sammelstellen schlossen. Seit dem Bau der Autobahn fehlen auch die Pendler, die auf dem Heimweg in die umliegenden Ortschaften an der Gärtnerei hielten. Die neuen Supermärkte waren an den geringen Produktionsmengen der Gärtnerei nicht interessiert, gewannen aber die jungen Leute, die keine Subsistenzwirtschaft mehr betrieben als Kunden.

Auch der Bevölkerungsrückgang senkte die Nachfrage in den Geschäften vor Ort. „Die alten Leute sind weniger geworden, und die jungen Leute bringen sich ihre Sachen von unterwegs mit,“ sagt Bettina Gonnermann, die gemeinsam mit ihrem Mann Egbert von 1990 bis 2015 den Lebensmittelladen in der Großen Mühlstraße betrieb. Die individuellen Zukunftspläne der Kinder sind ein weiterer Grund für das Verschwinden von Familiengeschäften. So ist die Zukunft der Bäckerei ungewiss. Auch die Gärtnerei sucht möglicherweise einen neuen Nachfolger, seitdem der Sohn an die Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau in Erfurt gewechselt ist. Gemüse produziert sie heute in kleinen Mengen. Ihren Umsatz macht sie mit Blumen und Jungpflanzen.

Wer verdient an der Landwirtschaft?

Die fünf größten Unternehmen – Edeka, Rewe, Schwarz-Gruppe, Aldi und Metro – vereinen knapp 76 % Marktanteil auf sich. Die Unternehmenskonzentration ist hoch und der Qualitäts- und Preiswettbewerb wird von den Unternehmen bestimmt. Seit Jahren liegen in Deutschland die Preise unter dem EU-weiten Durchschnitt, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich deutlich höher ist. Die geringen Ausgaben für Nahrungsmittel befördern die Wertschätzung gegenüber der heimischen Landwirtschaft und Produktion nicht.

Quelle: DBV, Situationsbericht 2021/22

In den letzten Jahren ist das Interesse der Verbraucher:innen an regionalen Lebensmitteln gestiegen und mit Ihnen die Chance, wieder eine neue Verbindung zwischen Produzent und Konsument aufzubauen. Mit dem Qualitätszeichen „Geprüfte Qualität aus Thüringen“ wurde dazu bereits eine Lizenz in Thüringen entwickelt. Anliegen ist es, die Möglichkeiten zur Bildung regionaler Wertschöpfungsketten in Thüringen optimal auszuschöpfen, die landwirtschaftlichen Erzeuger zu stärken und den regionalen Rohstoffanteil für Nahrungsmittel auf 90 % zu erhöhen.

Quelle: DBV, Situationsbericht 2019/20

In Thüringen wird aber kaum noch verarbeitet, was auch angebaut wurde. Der Ver- und Einkauf erfolgt über den Weltmarkt, was dazu führt, dass das Preis-Mengen-Verhältnis auch bei schlechten Ernten außer Kraft gesetzt ist. Die qualitätswichtige und wertschöpfungsintensive Verarbeitung von Rohstoffen findet wiederum andernorts statt. Zur Schließung der Lücken in diesen Verarbeitungs- und Wertschöpfungsketten und zur Stabilisierung der Preisentwicklung wird bereits seit einigen Jahren u.a. mit Initiativen wie dem Projekt CLET (Cluster Land- und Ernährungswirtschaft Thüringen) und mit dem Thüringer Qualitätszeichen gearbeitet.

Quelle: Green4Cities, Lebensmittelproduzenten im 200 km Umkreis von Kannawurf, 2020

Aussagen zum Verdienst der selbstständigen Landwirt:innen sind schwierig, da das Einkommen stark von der Wirtschaft und der Regionalität des jeweiligen Betriebes abhängt und keine weiteren Einkommensquellen wie Energieerzeugung etc. berücksichtigt werden. Laut Statistischem Bundesamt erhalten wiederum Angestellte in der Landwirtschaft in Deutschland etwa die Hälfte von dem, was der Durchschnittsangestellte – im Jahr 2017 etwa 35.000 Euro brutto – verdient. Etwa die Hälfte des Einkommens landwirtschaftlicher Angestellter wird dabei aus Zuschüssen und Direktzahlungen der EU-Agrarförderung bestritten.

Quelle: DBV, Situationsbericht 2019/20

Über Gestaltungsspielräume. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Über Gestaltungsspielräume. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Bei der Bewerbung werden verschiedene Kriterien berücksichtigt. Ortsansässigkeit, Kirchenzugehörigkeit, Pachtpreis. So grob jetzt. Und die Kirchengemeinde kann seit zwei Jahren einen, sag ich mal, Favoritenpunkt vergeben.“
Brita Hochheim

Landwirte und Politiker sind nicht die einzigen Verantwortungsträger für die Entwicklung der Landwirtschaft. Seit einigen Jahren beschäftigen sich Kirchengemeinden als Verpächter von Flächen in Deutschland damit, ihre Kriterien auch hinsichtlich ökologischer Vorgaben auszurichten. Von der EKM wurde zu diesem Zweck ein Favoritenpunkt eingeführt, ein weiterer betrifft soziale Kriterien. Das ist jeweils allerdings nur ein sehr geringer Anteil an der Gesamtpunktezahl. Zur Zeit verlange die EKM, so Brita Hochheim, neben der Bodenverwertungs- und -Verwaltungs Gmbh (BVVG) Thüringen, die höchsten Pachtpreise in der Region.

Gestaltungsspielraum haben auch die Gemeinden. Seitdem Kannawurf nicht mehr eigenständig ist, obliegt der Landgemeinde Kindelbrück die Verantwortung für die gemeindeeigenen Flächen. Am 17.02.2020 hat der Gemeinderat den Musterpachtvertrag und die Pachtvergaberichtline überarbeitet. Zu den Kriterien der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung zählen das Wahren des 5-Meter-Abstandes zu Gewässern, das Einhalten der Düngeverordnung, die Erhaltung der Gräben, eine schonende Bodenbearbeitung zur Stabilisierung des Bodengefüges, der Erhalt und die Pflege von Bäumen und Hecken und das Anlegen von Windschutzstreifen, wenn dies der Vermeidung von Bodenerosion dient. Wenn der Pächter in Absprache mit der Gemeinde Maßnahmen trifft, die den wirtschaftlichen Wert des Grundstückes erhöhen, so der Mustervertrag, hat die Gemeinde Aufwendungsersatz zu leisten. Das könnte auch beim Anlegen eine Hecke der Fall sein. Die Richtlinie und das Vertragsmuster wirken wie Instrumente, die sich durchaus im Sinne der Nachhaltigkeit anwenden lassen.

Im Pächter-Punktesystem wurde der Einfluss des Pachtpreisgebots (bis dahin 8 von 12 Punkten) zwar zu Gunsten von Junglandwirten und dem Kriterium kommunaler Unterstützungsleistungen neu gewichtet, trotzdem spielt das Preisgebot mit 6 von 12 Punkten noch immer die dominante Rolle. „Die Einnahmeerhöhung,“ erläutert Thomas Meister, „ist für die Gemeinden ein wichtiger Bestandteil des Verfahrens, da Pachteinnahmen auch einen haushaltsrelevanten Teil der Einnahmen darstellen.“ Unter den niedrigen Lebensmittelpreisen wiederum leiden insbesondere Biobauern und kleinere Unternehmen wie die Gärtnerei Voigt, die auf Grund der geringen Wirtschaftsfläche auch wenig subventioniert werden. Durch bewusste Kaufentscheidungen für regional und nachhaltig erzeugte Ware, die allerdings auch Mehrausgaben voraussetzen könnten, haben auch die Verbraucher Einfluss auf die lokale Land(wirt)schaft. Dafür braucht es natürlich die Infrastruktur, die solche Kaufentscheidungen ermöglicht.

Ökologie: Status Quo
Ökologie

Welchen Einfluss hat die Landwirtschaft auf die Umwelt?

Die Motorisierung veränderte im Zusammenhang mit den mineralischen Düngemitteln und dem Pflanzenschutz den Ackerbau und die Grünlandbewirtschaftung weitreichend. Der günstige Mineraldünger ließ den Anbau von humusfördernden Leguminosen wie Klee, Luzerne und Bohnen immer weiter zurücktreten. Die durch die Auflösung der Fruchtfolgesysteme verstärkt auftretenden Probleme wie Bodenverunkrautung und Pilzerkrankungen wurden bei stetig steigendem Ertragsniveau mit chemischen Wachstumsregulatoren und Pestiziden entgegengewirkt. Der damit oft einhergehende überschüssige Stickstoff führt zu einer Beeinträchtigung der biologischen Vielfalt.

Quelle: Europäischer Rechnungshof, Sonderbericht 13, 2020

Überschüssiger Stickstoff aus landwirtschaftlichen Quellen gelangt als Nitrat in Grund- und Oberflächengewässer und als Ammoniak und Lachgas in die Luft. Lachgas trägt als hochwirksames ⁠Treibhausgas⁠ zur Klimaerwärmung bei. Im Jahr 2020 kamen nach einer ersten Schätzung 8,2 Prozent der gesamten jährlichen Treibhausgasemissionen in Deutschland aus der Landwirtschaft. Der Eintrag von Nitrat und Ammoniak wiederum führt zur Nährstoffbelastung und Versauerung aller Land- und Wasserökosysteme und damit zur Beeinträchtigung wertvoller Biotope wie Auwälder, Moore, Heiden und Meere.

Quelle: Umweltbundesamt, 2019

Mit einem gezielten Humusaufbau im Boden lässt sich CO₂ im Boden speichern. Humus wird gebildet, indem organischer Kohlenstoff in Form von abgestorbenen Pflanzenresten von Tieren und Mikroorganismen in den Boden eingearbeitet und umgewandelt wird. Dadurch verbessert sich die Bodenfruchtbarkeit und die Wasserspeicherfähigkeit. Beeinträchtigt werden kann der Humus durch den Anbau humusmehrender oder humuszehrender Kulturen. Vorteilhaft für eine Humusentwicklung ist ein kleinflächiger Anbau, mindestens jährlicher Fruchtwechsel, Bewirtschaftung mit leichten Maschinen und Gründüngung.

Quelle: Gerald Dunst, Humusaufbau, 2016

Regenwürmer sind die Indikatoren für den ökologischen Zustand eines Bodens – je mehr desto besser. Ihre Leistungen bestehen in der permanenten Umschichtung der Nährstoffe im Boden, der Schaffung von Raum für die Belüftung und Aufnahme von Wasser und der nährstoffreichen Düngung des Bodens durch die Abgabe von Kot. Eingriffe in den Boden durch eine starke Bodenbearbeitung, Düngung oder Pestizideinsatz verändern die Lebensbedingungen des Bodenleittieres gravierend. Dies kann zur Verringerung der Bodenfruchtbarkeit und Wasserspeicherfähigkeit führen und damit die Bodenerosion befördern.

Quelle: AKREMI, Birnstingl, 2020

Landschaftswandel seit den 1960er Jahren. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Landschaftswandel seit den 1960er Jahren. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Die hiesigen Plantagen wurden geschliffen.“ Joachim Wolf

Ab den 1960er Jahren beschleunigte sich ein Prozess, der die umgebende Landschaft grundlegend veränderte. Weg von jener lockeren Struktur mit kleinen Feldern, Flutwiesen, Gärten, Plantagen und Weiden hin zu der großflächigen, zentralisierten Agrarlandschaft von heute. Pestizide waren wenig erforscht, versprachen aber hohe Erträge. Maschinen lösten Pferde und Handarbeit ab. Sie ermöglichten der LPG und dem Volksgut effizienteres Arbeiten, führten aber auch zur Vereinheitlichung des Landschaftsbildes. Während in Kindelbrück riesige Obstplantagen entstanden, spezialisierte sich die Pflanzenproduktion der LPG „Neues Leben“ auf Ackerfrüchte.

Erste Feldwege, in ihrer ursprünglichen Breite darauf ausgelegt, dass zwei Pferdefuhrwerke einander passieren konnten, verschwanden. Nach der Wiedervereinigung gab es auch in Kannawurf erstmals einen Fokus auf den Umweltschutz, erinnert sich der 1977 geborene Orthopädietechniker Silvio Reinsch. Wie in viele andere Flüsse, in die Industrie- und Haushaltsabwässer eingeleitet worden waren, kehrten auch in die Wipper die Fische zurück. In die ehemalige Kiesgrube wurden keine toten Schweine mehr entsorgt, und die benachbarte Mülldeponie wurde abgetragen. Zwischen den Feldern aber setzten sich die von Joachim Wolf beschriebenen Landschaftsveränderungen fort. Mit den Wegen fehlen, zusammen mit den ebenfalls verschwundenen Brücken über Wipper und Unstrut, viele der direkten Verbindungen in die Landschaft und zu den umliegenden Dörfern. Die Schafe verschwanden mit aus der Landschaft. Verkauft für einen Euro pro Tier, denn australische Wolle war billiger als die vor Ort geschorene.

Viele sehen die Veränderungen kritisch. Allerdings scheinen sich gerade die Älteren damit abgefunden zu haben. „Heute machen sie überall Kahlschlag,“ bedauert auch Elisabeth Ernst. Sie glaubt aber nicht, dass man zur vergangenen Landschaft, zum Beispiel zu den kleinen Feldern, zurückkehren könne. „Wer soll die bewirtschaften. Es ist niemand mehr da.“ Eher pragmatisch sehen viele Landwirte die Veränderungen. Elisabeth Henfling mag die großen Felder. Hin und wieder eine Bank dazwischen wäre schön, um den Blick schweifen zu lassen.

Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf die Landwirtschaft?

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die weltweite Durchschnittstemperatur um rund 1 °C an, in Deutschland um 1,6 °C (UBA). In einer Studie des Thüringer Umweltministeriums wird geschätzt, dass im Freistaat Thüringen bis 2050 die Jahresdurchschnittstemperatur um bis zu 2,5 °C höher liegen kann, wobei insbesondere die Sommer deutlich wärmer werden. Die Jahresmitteltemperatur des Freistaates Ende des Jahrhunderts wäre dann mit dem heutigen Temperaturniveau von Mailand vergleichbar (IMPAKT II). Im Thüringer Vergleich wird Kannawurf den Prognosen zur Folge am stärksten von der Zunahme der Temperaturen betroffen sein.

Quelle: TMLFUN/TLUG, Impakt I, 2013

Für Deutschland lässt sich insgesamt eine Zunahme der Niederschläge seit 1881 um etwa 10 Prozent ablesen, die vor allem in den Wintermonaten auftreten. Gleichzeitig steigt in den sommerlichen Monaten die Verdunstungsrate. In den stark landwirtschaftlich geprägten Gegenden Thüringens wird von einer Zunahme der Winterniederschläge von bis zu 40 Prozent ausgegangen, während es in den ohnehin schon sehr trockenen Sommern seltener, aber dann vermehrt zu Starkregenereignissen kommen könnte.

Quelle: DWD, Klimaatlas, 2020

Die Folgen der wesentlichen Effekte der Klimaänderungen in Form von Temperaturanstieg, höherer CO2-Konzentration, veränderter Niederschlagsverteilung und Zunahme extremer Wetterereignisse äußern sich für die Landwirtschaft in längerer Vegetationszeit mit Verschiebung von Vegetationszonen. Das hat Auswirkungen auf die Wachstumsbedingungen und Konsequenzen für die Produktionstechnik wie Arten- und Sortenwahl, Bodenbearbeitung, Düngung, Pflanzenschutz oder Beregnung. Allein die Vegetationsperiode im Thüringer Becken hat sich in den vergangenen Jahren bereits um rund 20 Tage verlängert. Das mögliche mittlere Klimaszenario des Thüringer Umweltministeriums erwartet in den kommenden 30 Jahren eine nochmalige Verlängerung um weitere 20 Tage.

Quelle: DWD, Klimaatlas, 2020

Seit 1955 steigt der CO2-Ausstoß kontinuierlich an und mit ihm länger andauernde, schwachwindige und sommerliche Hochdruckwetterlagen sowie Starkregenereignisse in intensiven kurzen Perioden. Niederschläge mit mehr als 10 Liter auf einem Quadratmeter können schon ab einem Gefälle von zwei Prozent Bodenerosion auslösen. Je trockener und ausgelaugter der Boden, desto höher das Erosionsrisiko. Negative Auswirkungen auf der Ackerfläche sind die Verringerung der Bodenfruchtbarkeit durch Humusabtrag, die Beeinträchtigung der Wasserspeicherung sowie Ernteausfall. Auf benachbarten Flächen und Gewässern führen die Bodenerosionen zu Verunreinigungen, Überschwemmungen und Eutrophierung. Im Sommer 2019 kam es auch in Kannawurf nach einem Starkregen zu gewaltigen Erosionen, die teilweise steile Hänge und die Bundesstraße überfluteten und verschlammten.

Prognosen und Sorgen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Prognosen und Sorgen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Die Unwetter werden mehr. Kannawurf war eigentlich immer verschont. In Weißensee konnte die Welt untergehen, und hier war nicht ein Tropfen Regen. Wenn Gewitter vom Westen her kommen, zieht es am Wald lang und Kannawurf kriegt nur einen kleinen Zipfel ab. Wenn die Unwetter aber von Büchel her kommen, von Süden, dann wird es hier kriminell.“ Stefan Wagner

Vor seiner Steinmetzlehre studierte Stefan Wagner Geo- und Meteorologie in Halle und Leipzig. Das Interesse an Naturphänomenen ist ihm geblieben. Er sieht eine Veränderung der Windrichtung als Ursache für die Zunahme von Unwettern. Elisabeth Henfling und Thomas Flemmig beobachten seit 10 Jahren eine Zunahme von Windstärke, Windtemperatur und ebenfalls eine Veränderung der Richtung. Statt Nordwest und Westwetterlagen seien es nun vermehrt Südwest- und Ostwetterlagen. Vor drei Jahren, erinnert sich Thomas Flemmig, habe er erstmals erlebt, dass ein Gewitter aus Osten kam. „Das wird irgendwann mal zum Alltag. Dass einmal im Jahr oder alle zwei Jahre so heftige Sachen kommen,“ glaubt auch Silvio Reinsch. „Besser wird es auf keinen Fall,“ sagt Peggy Hessler, die damit rechnet, dass man sich auf mehr Sturm einstellen muss. Und dass es Wasser in Massen geben wird, aber erst nach dem Sommer, wenn man es nicht mehr braucht.

Auf politischer Ebene herrsche Unwissenheit. Man sorge sich vor allem über Symptome, bekämpfe aber nicht deren Ursachen, kritisiert Joachim Wolf. Brita Hochheim, die von 1995 bis April 2020 in der Grundstücksverwaltung der evangelischen Kirche Mitteldeutschland arbeitete, sieht die Nöte der Landwirte. „Dieses Jahr haben schon einige angerufen, dass sie die Pacht nicht bezahlen können.“ Bei Kannawurf, sagt der junge Landwirt Johannes Hessler, sei das zum Glück noch nicht vorgekommen. Er fragt sich, ob Landwirtschaft in vielen Jahren überhaupt noch Sinn macht. „Aber es ist noch nicht so, dass man es an den Haken hängen kann.“ Peggy Hessler prognostiziert, dass die Landwirte ihren Anbau auf alternative Arten umstellen werden. Die Gärtnerei hat damit bereits begonnen. „Wenn wir kein Regenwasser mehr haben, ist es halt schwieriger geworden, im Freiland gut zu produzieren.“ Elisabeth Henfling setzt zunehmend auf Pelargonien und andere hitze- und trockenheitstolerante Sorten. Bei deren Züchtung, so die Gärtnerin, sei auch die Forschung gefragt.

Kommunikation: Status Quo
Kommunikation

Welche Rolle spielt die Landschaft?

Früher prägte die Landschaft mit ihrer Topographie, ihren Klima-, Boden- und Wasserverhältnissen das Leben der Menschen. So auch in Kannawurf. Das Dorf bedingte seine Anfänge in den landschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten. Es liegt eingebettet zwischen dem bewaldeten Höhenzug Hainleite und dem kleinen Fluss Wipper und nahe der geschichtsträchtigen Thüringer Pforte, einem geologisch bedingten Nadelöhr zwischen zwei Höhenzügen.

Grafik: Geoportal Thüringen/Green4Cities, Höhenrelief

Die Thüringer Pforte sorgte im Mittelalter für Überfälle der Handelsreisenden. Zu ihrem Schutz siedelten sich die ersten Schlossherren im 13. Jahrhundert an und erbauten in den nassen Talwiesen der mäandrierenden Wipper eine Wasserburg. Im 16. Jahrhundert wurde aufgrund der fruchtbaren Böden, dem günstigen Klima mit den südexponierten Hängen und der wasserreichen Wipper das Renaissanceschloss als Herrenhaus eines landwirtschaftlichen Guts erbaut.

Grafik: Green4Cities, historische Gewannflure Kannawurf, heute noch Eigentümerstruktur

Ein Dorf mit Gewannfluren entstand. Entsprechend der Zahl der Höfe waren die Gewanne in gleich große Streifen unterteilt, die im Flurzwang bewirtschaftet wurden. Jeder Bauer war verpflichtet, sich im Rahmen der Dreifelderwirtschaft an die abgesprochene Fruchtfolge, an die Sä- und Erntezeit zu halten. Die Gewanne waren meist zehnmal so lang wie breit, um mit dem Pfluggespann nicht oft wenden zu müssen und spannten sich jeweils zwischen zwei Feldwegen auf. Diese Gewannfluren existieren immer noch als Besitzerstrukturen, liegen jedoch heute als einheitlich bewirtschaftetes Pachtland unsichtbar in den großen Schlägen, die Feldwege sind zum größten Teil überpflügt.

Heute gilt die Region als einer der agrarischen Gunststandorte von Europa, das Thüringer Becken, an dessen Nordsostrand die Gemeinde Kannawurf liegt. Sie ist geprägt von großflächiger, intensiv bewirtschafteter Agrarlandschaft. Die Bodenwertzahlen (0–100) sind überdurchschnittlich hoch, sie betragen an den Hängen ca. 60, im Tal ca. 95. Es wird ausschließlich Ackerbau betrieben, dabei bildet der Weizen den Hauptanteil, gefolgt von Wintergerste, Mais und Zuckerrübe. Die Wipper ist heute begradigt und umdeicht, die Gewässergüte beträgt „befriedigend“, der Anteil an naturnahen Bereichen liegt im einstelligen Prozentbereich. Am südlichen Horizont drehen sich Windräder.

Grafik: Green4Cities, Dorf- und Landschaftsstrukturen Kannawurf 1877

Grafik: Green4Cities, Dorf- und Landschaftsstrukturen Kannawurf nach 1950

Verschwundene Orte. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Verschwundene Orte. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Rechts und links, alles Obstbäume. Gegen Ende vom Krieg, da bin ich abends von einem Baum zum anderen gelaufen, wenn Fliegeralarm war.“ Elisabeth Ernst

Als ihre Eltern am 10. April 1924 nach der Vertreibung aus Posen nach Kannawurf kamen, war sie 10 Monate alt. Heute ist sie mit 97 Jahren die älteste Einwohnerin. Die hiesigen Veränderungen konnte die ehemalige Finanzbuchhalterin der 1956 gegründeten LPG „Neues Leben“ ein knappes Jahrhundert beobachten. Auf den Hügeln wurden in den 1930er Jahren neben Getreide alle möglichen Gemüsesorten für die Grundversorgung angebaut. Dazwischen saßen Obstplantagen wie weitere Flicken im Patchwork der Felder. Auf den Wegen weideten Schafe. Straßen und Wege waren mit Obstbäumen bepflanzt. Den kriegsgeborenen Kindern schenkten sie Vitamine. Daneben dienten sie, wie die an der Straße nach Kindelbrück, als Deckung vor feindlichen Flugzeugen. Der Fluss war noch nicht begradigt, sondern wand sich in „Schnörkeln“ durch die Ebene. Am Wehr an der Mühle lernten die Kinder das Schwimmen.

Drei Brücken verbanden das Dorf mit dem Rieth und der Aue. Das Rieth war Überschwemmungsgebiet. „Bevor der Deich an der Unstrut war, da war ein Hochwasser, das ging bis ins Frühjahr rein.“ Joachim Wolf hatte einen naturbegeisterten Lehrer, der seine Schüler auf Exkursionen einlud. „Da haben wir Wildvögel beobachtet, die gebrütet haben. Das war alles noch unter Wasser, teilweise guckten Inseln raus.“ Während die Aue schon nach dem ersten Weltkrieg für den Ackerbau nutzbar gemacht worden war, mähten die Bauern im Rieth bis in die 1960er Jahre vor allem Heu. Durch ein System aus niedrigen Deichen, Gräben und Schleusen konnten die einzelnen Haltungen kontrolliert mit Wasser versorgt werden: „Die Unstrut hatte an der Werthmühle ein Wehr. Oberhalb gab‘s ein Siel. Also einen Auslauf. Nach der ersten Mahd wurden die Flächen gewässert, um wieder den Wuchs zu forcieren.“ Die Gräben führten ganzjährig Wasser. „Wir haben da immer Molche gefangen und Stichlinge.“ Die Hechte standen in der Laichzeit so still, dass man sie vom Ufer mit einem Stock am Bauch streicheln konnte.

Welche Rolle spielen die Akteure vor Ort?

Die Entwicklung des Landkreises zeigt, dass trotz Bevölkerungsrückgang innerhalb der vergangenen Dekade im gleichen Zeitraum die Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter um etwa 20 Prozent zunahm und das bei konstant hoher Vollzeitquote von über 90 Prozent. Kannawurf selbst bietet außerhalb der Land- und Forstwirtschaft und einzelnen kleinen Dienstleistern kaum sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. In der Verwaltungsgemeinschaft Kindelbrück sowie im Landkreis Sömmerda gibt es einzelne, verhältnismäßig große Industrieunternehmen. Ein Viertel der Beschäftigten pendelt bis nach Erfurt.

Grafik: Green4Cities, Industrieunternehmen im Landkreis Sömmerda 2020

Das gesellschaftliche Leben prägen zu einem Großteil die Freiwillige Feuerwehr, ein agiler Karnevalsverein, der ortsansässigen Landwirt, die Umweltgruppe und die Neubesitzer des Schlosses. Der Karnevalsverein organisiert über die Karnevalssaison hinaus Familiennachmittage, Public Viewings, Sylvestergalas und vieles mehr. Der ortsansässige Landwirt lädt einmal im Jahr zu einem großen Hoffest ein, spendet für Dorffeste und betreibt einen Direktverkauf von Kartoffeln an seine Pächter:innen. Das Schloss wurde 2007 vom Verein Künstlerhaus Thüringen e.V. erworben, der seither mit Unterstützung das Schloss schrittweise saniert, kulturell belebt und den alten Renaissancegarten rekonstruiert.

Über Populationen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Über Populationen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

„Maikäfer. Die gab‘s nicht so oft. Die Populationen... sieben Jahre brauchen die, glaube ich. Aber Junikäfer gab‘s ohne Ende. Die sind ja ein bisschen kleiner als Maikäfer. Das hat nur gebrummt. Und ich fand, es gab auch viel mehr Vögel. Wegen den Käfern.“ Silvio Reinsch

Wenn er jedes zweite Wochenende von Bittkau bei Tangermünde in den Elbauen zum Besuch seiner Eltern nach Kannawurf kommt, frönt Steinmetz Stefan Wagner einem Jugendhobby: Mit dem Feldstecher geht er ins Rieth und beobachtet Tiere. Viele Populationen schätzt er als stabil ein. Andere Tierarten aber, gerade die unscheinbaren, verschwinden. „Es gibt so nen krassen Rückgang an Vögeln und Insekten.“ Seit 2018 sind Silvio Reinsch wie auch Joachim Wolf Mitglieder der Umweltgruppe. „Schwalbenschwänze, kennst du die? Die waren massenhaft da. Schmetterlinge ohne Ende.“ Heute sieht man sie kaum noch. Den Insekten fehlt Nahrung und Lebensraum. Ihr Sterben wiederum wirke sich tödlich auf die Vogelwelt aus, ergänzt Joachim Wolf, der in seiner Tordurchfahrt 104 Schwalbennester hütet: „Ein paar Fasane und Rebhühner laufen noch rum. Aber als stabile Population kann man das nicht mehr bezeichnen. Es fehlen die Deckung durch Gebüsche und unbehandelte Flächen, wo eine Pflanzenvielfalt herrscht. Und vor allem Insekten. Die Jungenaufzucht passiert nur mit Insekten. Wenn da keine da sind, dann ist das erledigt. Wachteln genauso und Feldlerchen.“

Es ist aber keineswegs nur die Landwirtschaft, die zum Verschwinden der Tiere beiträge, betont Silvio Reinsch. Das Ideal der getrimmten Rasen und Zementgärten ist ein Mentalitätsphänomen der heutigen Zeit. „Ist der Rasen ein bisschen hoch, kommt der Gemeindearbeiter und muss daraus nen Englischen machen. Früher hat da keiner gemäht.“ Schon vor Gründung der Kannawurfer Umweltgruppe 2018 waren Joachim Wolf und andere Umweltschützer jahrzehntelang auf der Kannawurfer Streuobstwiese aktiv gewesen. Sie hatten Bäume gepflanzt und gewässert, ein Insektenhotel gebaut und eine Benjeshecke angelegt. Damit Bockkäfer, Käuze oder Spechte, die auf Totholz angewiesen sind, auch Lebensraum und Nahrung finden, lassen sie abgestorbene Bäume stehen. Im Herbst 2019 steckte die Umweltgruppe über 200 neue Weiden auf dem Wipperdamm. Die Landwirtschaft Kannawurf Betriebsgesellschaft mbH half beim Anlegen einer kleinen Blühwiese auf Gemeindeland an der Wipper. Viele Projekte fanden in Kooperation mit dem Künstlerhaus Thüringen statt, darunter der vom Künstlerhaus initiierte Ackerwildkräuterlehrpfad im Frühjahr 2019. Umfangreiche Baum- und Heckenpflanzungen entlang von Feldwegen hat das Künstlerhaus in Kooperation mit lokalen Landwirten bereits begonnen. Die Aktivitäten wirken ins Dorf. Manche Kleingärtner beginnen, in Vorgärten und hinter ihren Häusern Blühwiesen anzulegen.

Welche Rolle spielt Teilhabe?

Als Grundlage einer gelebten Teilhabe gilt die Befähigung, gesellschaftliche Herausforderungen und notwendige Veränderungen zu erkennen und zu verstehen. Akteure rund um das Schloss Kannawurf haben sich von Beginn an dem Thema Nachhaltigkeit angenommen und Projekte initiiert, die unter anderem die Pflanzung von 1.500 Bäumen anstrebt. Die Obstwiese an der Wipper wurde wiederum mit der Umweltgruppe zur Allmende erklärt, gemeinschaftlich gepflegt und beerntet. Und der Dorffunk „Weisser Holunder“ stellte die Neugründung eines Dorfradios dar, in dem z.B. Interviews mit den Bürger:innen über Themen zur Entwicklung der Kulturlandschaft ausgestrahlt wurden.

Das Künstlerhaus Thüringen e.V. inszeniert seit Jahren künstlerische Interventionen in der Gemeinde für eine gelebte Teilhabe an der Land(wirt)schaft und für eine veränderte Landschaftsgestaltung. Unter dem Motto „Ab ins Freie“ baute zum Beispiel der Landschaftskünstler Richard von Gigantikow mitten in der Agrarlandschaft ein Feldtheater. Der Bau und die Bespielung lockten viele Kannawurfer das erste Mal seit Jahrzehnten wieder in die Land(wirt)schaft, die erhöhten Sitzmöglichkeiten boten Aussicht in die Umgebung und den Blick auf ihr Dorf.

Für das Projekt „Ich, in meinem Dorf“ wurden wiederum 100 analoge Einwegkameras an die Bürger:innen verteilt und die Fotografin Frederyke Sauerbrey beauftragte, ihr persönliches Bild von Kannawurf festzuhalten. Es entstand ein authentisches Porträt des Dorfs und der Landschaft, die öffentlich ausgestellt und diskutiert wurden.

Neue Kooperationen haben das Potential, Türen und Fenster zu öffnen. Im Jahr 2017 wurde so gemeinsam mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen der IBA-Campus initiiert. 10 Tage lang lebten und arbeiteten Studierende und Professionals gemeinsam auf dem Schloss Kannawurf, um Zukunftsszenarien für eine moderne Kulturlandschaft des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Feldspaziergänge mit Landwirt:innen, große Bürgerrunden und Expertenvorträge sorgten für eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Thematik und legten den Grundstein für die zukünftige Kooperation.

Perspektiven vor Ort. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Perspektiven vor Ort. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Foto: Peter Moltmann

"Junge Familien sind heute umweltbewusster und leben anders als vor 20 Jahren." Claudia Heiße

Viele Kannawurfer fühlen sich ihrer Heimat verbunden. Inwieweit aber das Leben hier Perspektiven bietet, dazu gibt es verschiedene Ansichten. Die Entwicklung der Infrastruktur, prognostiziert Elisabeth Henfling, wird für die Lebensqualität eine entscheidende Rolle spielen. Eine Schule gibt es seit 1995 jedoch nicht mehr. Seit 2019 ist Kannawurf kein eigenständiges Dorf mehr, sondern Ortsteil der Landgemeinde Kindelbrück. Die Zahlen des Thüringer Landesamts für Statistik zeigen eine stetige Bevölkerungsabnahme des knapp 800 Einwohner zählenden Ortes. Die meisten Kannawurfer, so die Vorausschau, wären dann Rentner.

Die Infrastruktur, sagt Elisabeth Henfling, garantiert nicht nur die grundlegende Versorgung, sondern prägt auch die Gemeinschaft. Ihrem Empfinden nach hat der soziale Zusammenhalt unter dem Schwinden der Infrastruktur gelitten. Dem gegenüber betonen viele den Zusammenhalt, den die Kultur schafft. Für ein Dorf dieser Größe ist Kannawurfs Angebot reich. Das Künstlerhaus Thüringen veranstaltet seit 2007 Konzerte, Theatervorführungen und Galerien, zu denen Besucher auch aus den umliegenden Städten, manchmal sogar aus dem Ausland kommen. Die lokalen Vereine organisieren häufig gemeinsam Dorffeste, Weihnachtsmärkte und Ausstellungen. Landwirte und Unternehmer unterstützen sie mit Räumlichkeiten, Maschinen und Material. Auch die Jobmöglichkeiten haben sich wieder deutlich verbessert. Zwar nicht direkt vor Ort, dafür aber in der Region. Viele Kannawurfer, darunter Silvio Reinsch, Peggy Hessler und Brita Hochheim, sind oder waren Pendler.

Sehr optimistisch ist Caudia Heiße, geboren 1970, die Leiterin der Kannawurfer KITA. Trotz des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs verzeichnet das Zwergenland seit 6 Jahren wachsende Einwohnerzahlen. „Ich denke, Kannawurf ist lukrativ. Viele Vereine, Leben im Dorf, das Schloss, Umweltschutz und viele Häuser, die nie lange leer stehen. Ich habe viele positive Reaktionen zu verschiedenen Projekten der Umweltgruppe gehört. Die Müllsammelaktionen sind gut angekommen bei den jungen Leuten und auch die Streuobstwiese mit dem Insektenhotel.“ Die Kindergärtnerin, die jeden Tag aus Schillingstedt pendelt, träumt von einem Mehrgenerationenhaus in Kannawurf, wo Kita, Schule und betreutes Wohnen in einem Gebäude stattfinden.

Ökonomie: Zukunft
Ökonomie

Neues überbetriebliches Fruchtfolgenmanagement

Wie sich Agrarunternehmen auf eine klimagerechte Landwirtschaft bei gleichzeitiger Stärkung der regionalen Wertschöpfung umstellen könnten, wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen untersucht. Für die Agrarflächen der Landwirtschaft Kannawurf Betriebsgesellschaft mbH und der agrar-GmbH Oldisleben auf der Gemarkung Kannawurf ist gemeinsam mit der IBA Thüringen und dem Künstlerhaus Thüringen e. V. dazu eine Machbarkeitsstudie durch die Green4Cities GmbH erstellt worden. Im Ergebnis entstand für 1.500 Hektar Acker das Leitbild ›Klimalandschaftstypologien mit überbetrieblichem Fruchtfolgenmanagement‹.

Grafik: Green4Cities, historisches Prinzip abgesprochenes Fruchtfolgenmanagement

Das überbetriebliche Fruchtfolgenmanagement basiert auf einer regionalen Kooperation – und zwar zwischen verschiedenen Landwirt:innen untereinander sowie den lokalen Verarbeitungsfirmen. Das Prinzip des abgesprochenen Fruchtwechsels findet sich schon in der historischen Form des Gewanndorfs aus dem 12. Jahrhundert. Dabei wurde mittels Flurzwang die gesamte Ackerfläche einer Dorfgemeinschaft in mindestens drei große zusammenhängende Felder, sogenannte Zelgen, unterteilt. Jeweils wechselnd wurden sie mit Winter- oder Sommergetreide bestellt, zur Pausierung ein Brachenjahr eingelegt und ab dem 17. Jahrhundert Rüben oder Kartoffeln angebaut. Diese Zelgen wurden wiederum in etwa gleich große Gewannflure parzelliert, von denen jeweils mindestens drei von einem Hof bewirtschaftet wurden - immer in Absprache mit den benachbarten Höfen. Ziel war damals, keinem Hof einen Wettbewerbsvorteil über die Aussaat ertragreichere Fruchtsorten oder frühere Erntezeiten zu ermöglichen.

Quelle: Green4Cities, Vorschlag Fruchtfolgen für künftiges Fruchtfolgenmanagement

Das Ziel des überbetrieblichen Fruchfolgenmanagements des 21. Jahrhunderts ist die regionale Ökonomisierung eines klimagerechten Anbaus. Eine großflächig angebaute Standardkultur wird teilweise durch kleinflächig angebaute Kulturen ersetzt. Die aufgrund der kleinen Schläge geringen Erntemengen werden durch eine Kooperation mehrerer Landwirt:innen, die jeweils die gleichen Kulturen anbauen und abwechselnd ein Brachenjahr einlegen, ausgeglichen, sodass trotzdem rentable Mengen erwirtschaftet werden. Aus der Summe der kleinen Teile wird ein großes Ganzes, Personal und Technik werden geteilt, wichtige Erfahrungen ausgetauscht. Die zusätzliche Kooperation mit ansässigen Verarbeitungsfirmen und der Ausbau fehlender Verarbeitungsschritte als zweites Standbein für Landwirte bildet eine lückenlose Wertschöpfungskette innerhalb der Region. Die jeweilige Fruchtsortenauswahl basiert auf den unterschiedlichen Standortbedingungen neuer Klimalandschaftstypologien - Kuppe, Hang und Aue.

Quelle: Green4Cities, Prinzip überbetriebliches Fruchtfolgenmanagement zwischen zwei Landwirten

Überbetriebliche Fruchtfolgenmanagerin. Eine Zukunftserzählung

Überbetriebliche Fruchtfolgenmanagerin. Eine Zukunftserzählung

Ich bin eine sogenannte Fruchtfolgemanager:in. Ich versuche, nachhaltige Versorgungsstrukturen zwischen Lebensmittelerzeuger:innen, -verarbeiter:innen und -verkäufer:innen innerhalb von Regionen aufzubauen, sozusagen eine Wertschöpfungskette vom Feld bis zum Teller. Dazu vernetze ich Landwirt:innen einer Region untereinander und mit ansässigen verarbeitenden Betrieben. Ziel ist, dass mehrere Landwirt:innen ihre großflächigen Standardkulturen wie Getreide teilweise durch den Anbau verschiedener Spezialkulturen wie Gemüse oder Kräuter ersetzen. Beim Anbau der Spezialkulturen soll vergleichbar mit der historischen Dreifelderwirtschaft ein betriebsübergreifender und regionaler Fruchtwechsel verfolgt werden. So werden die großen Kulturflächen mit Standardkulturen kleiner, die zusätzlichen Felder mit Spezialkulturen erhöhen die ökologische Vielfalt und werten den Boden auf. Durch den Zusammenschluss der Landwirt:innen wird eine rentable Erntemenge erzielt, die gemeinsam an den Verarbeiter weiterverkauft wird, der die Endprodukte wiederum an den Lebensmittelhandel vertreibt. Teilweise fehlt es den Verarbeiter:innen an speziellen Ackerfrüchten, doch noch mehr fehlt es an hiesigen Verarbeitungsunternehmen. Beide Lücken gilt es zu füllen. Ich erkundige mich also bei den Verarbeiter:innen, für was für Ackerfrüchte eine hohe Nachfrage besteht.

Dann besuche ich die Landwirt:innen der Region, schaue mir die Betriebe an, stelle ihnen das Konzept vor und versuche, sie zu ermutigen, mitzumachen. Die Generierung der ersten Landwirt:innen war sehr schwierig, doch ich half bei den Förderanträgen und auch bei den Preisverhandlungen mit den Verarbeiter:innen und wir fingen erst einmal mit kleinen Flächen an. Nach der ersten Ernte waren die Landwirt:innen dann beruhigt, Anfangsschwierigkeiten konnten wir konstruktiv lösen. Wenn es dagegen um fehlende Verarbeitungstechniken in der Region geht, wie z.B. die Reinigung, Zerstückelung und Rohsaftgewinnung aus Zuckerrüben, dann überlege ich gemeinsam mit Landwirt:innen, wer von ihnen räumliche Kapazitäten und Lust darauf hätte, diese als zweites berufliches Standbein aufzubauen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Ein positiver Nebeneffekt ist, dass konventionelle Landwirt:innen an ökologische Bewirtschaftung und Änderung von Betriebsstrukturen langsam herangeführt werden können. Ein teilnehmender Landwirt überlegt tatsächlich, nun vollständig auf ökologischen Landbau umzusatteln, auch weil es nachhaltig lukrativer für ihn geworden ist. Es ist eine herausfordernde Aufgabe, aber zu sehen, wie das Netz immer enger wird, die Versorgungsstrukturen im ländlichen Raum immer besser und die Flächen mit ökologischem Landbau immer mehr werden, erfüllt mich mit Stolz. Ich denke auch, dass so zukünftig die Ernährungswirtschaft regional gestärkt und wieder wichtige Arbeitgeber:innen im ländlichen Raum werden könnte.

Ökologie: Zukunft 2
Ökologie

Neue Klimalandschaftstypologien

Grundlage des überbetrieblichen Fruchtfolgenmanagements bilden raumbezogene Klimalandschaftstypologien — Kuppe, Hang, Aue — die aufgrund ihrer unterschiedlichen lokalklimatischen Effekte identifiziert wurden. Für diese sind jeweils unterschiedliche Fruchtfolgen zur Minimierung der Wind- und Wassererosion, von Hitzeinseln und Oberflächentemperaturen und spezielle Anpassungsstrategien an den Klimawandel entwickelt worden.

Klimalandschaftstypologie Kuppe

Kuppen sind stark von erhöhter Windstärke und Winderosion geprägt, die zusätzlich zur Hitze die Austrocknung des Bodens und den Humusverlust befördern. Als Maßnahmen werden hier vorrangig eine durchgängige Begrünung auch über den Winter und Untersaaten empfohlen. Kräuter- und Gewürzpflanzen eignen sich in dieser Typologie besonders gut, eine ganzjährige und dichte Vegetationsschicht als Erosionsschutz zu bilden und über die Taubildung auch die Feuchtigkeit zu erhöhen. Dabei wird auf wind- und trockenheitsresistente Arten wie Kümmel, Thymian und Rosmarin gesetzt.

Zusätzlich werden windstabile Nutzgehölze entlang der Isohypsen am Rande der Kuppe als „Grüne Krone“ angepflanzt, um die Windstärke zu mildern und vor Wassererosion durch Starkregen auf den angrenzenden Hängen zu schützen. So werden die Kuppen betont, optisch erhöht und führen zu einem neuen Bild einer Klimakulturlandschaft mit bepflanzten Kuppen. Als windstabile Nutzgehölze können Haselnuss, Walnuss und Hollunder gepflanzt werden.

Quelle: Green4Cities, Schutz vor Winderosion durch Busch- und Baumpflanzung

Zur langfristigen Diversifizierung des Anbaus und zur dauerhaften Humusmehrung wird hier eine fünfjährige Fruchtfolge initiiert. Das erste Jahr erfolgt aufgrund der hohen Nachfrage weiterhin Getreideanbau aber mit einer Klee-Untersaat. Im zweiten Jahr werden stickstoffbindende Lupinen, im dritten Jahr Wiesenkümmel als dichte Vegetationsschicht und im vierten Jahr wieder Getreide mit Untersaat angebaut. Abschließend wird als abtragende Frucht Winterroggen gepflanzt, da dieser die geringsten Ansprüche an den Nährstoffvorrat im Boden hat. Auch hier erfolgt im Rahmen des Fruchtfolgenmanagements der gleiche Fruchtwechsel auf weiteren Kuppen in der Region, jedoch jahresversetzt.

Quelle: Green4Cities, Vorschlag Fruchtfolgen Kuppe

Klimalandschaftstypologie Hang

Ackerflächen an Hangzonen sind besonders anfällig für Wassererosion sowie Überhitzung. Abfallende Hangwinde steigern die Bodentrockenheit, Niederschläge fließen oberflächig ab und führen zu Humusverlust. Die so verminderte Bodenfeuchtigkeit reduziert die Kaltluftentstehung und verstärkt die Bodenerwärmung. Durch den langjährigen Humusabbau kann der Oberboden keine großen Regenmengen mehr aufnehmen, die Erträge nehmen ab. Als Maßnahmen werden hier die Anlage von Keylines, Ergänzung der Getreidefelder mit Untersaaten, eine möglichst durchgängige Begrünung auch über den Winter und eine hangparallele und pfluglose Bewirtschaftung empfohlen. Dies alles strukturiert und wertet die aktuelle Agrarlandschaft zu einer vielfältigeren Klimakulturlandschaft auf.

Mithilfe standortgerechter Mischkulturen und Untersaaten soll eine möglichst langfristige Begrünung der Hänge und damit eine Erhöhung der Wasserspeicherfähigkeit, Verminderung der Verdunstung, Erosionsschutz und eine humusaufbauende Wirkung erzielt werden. Als zusätzliche Ackerfrüchte werden vorrangig Nutzhanf, Kartoffeln, Leguminosen und Ölsaaten empfohlen. Nutzhanf wirkt sich in der Fruchtfolge äußerst gut auf die Bodenbeschaffenheit aus, bedarf weder Unkrautvernichtungs- noch Pflanzenschutzmitteln. Das Stroh der verwelkten Pflanzen eignet sich hervorragend als Dünger. Leguminosen binden an ihrem Wurzelwerk den Stickstoff aus der Luft und versorgen so den Boden mit dem wichtigen Düngerelement.

Quelle: Green4Cities, Schutz vor Winderosion durch Getreidefelder mit Untersaaten

Zur Erneuerung der Bodenfruchtbarkeit wird die großflächige Kultur aufgehoben und auf Teilen der Hangflächen eine Fruchtfolge mit den neuen Ackerfrüchten initiiert. Zu Beginn wird Nutzhanf angebaut, da er mit seinen bis zu drei Meter tief wachsenden Wurzeln den Boden nachhaltig auflockert und stabilisiert. Im zweiten Jahr erfolgt Kartoffelanbau und anschließend zur Stickstoffanreicherung im Boden der Anbau mit Leguminosen. Im vierten Jahr werden Ölsaaten wie Lein empfohlen, bevor im fünften Jahr wieder Nutzhanf angebaut wird. Auf Basis des überbetrieblichen Fruchtfolgenmanagements können Landwirt:innen in der gesamten Region dieselbe Fruchtfolge jahresversetzt anbauen, um jede Ackerfrucht jedes Jahr an Abnehmer:innen liefern zu können und die Wertschöpfungskette nicht zu unterbrechen.

Quelle: Green4Cities, Vorschlag Fruchtfolgen Hang

Klimalandschaftstypologie Aue

Die Aue ist wichtiger Kaltluftentstehungsbereich und Frischluftkanal, der den Abtransport warmer Luftmassen und die nächtliche Abkühlung bewirkt. Die Begradigungen der Flussläufe und intensiver Ackerbau haben dieses Ökosystem schrittweise trockengelegt und die Wirkung geschwächt. Die Entwicklung halboffener Weidelandschaften mit Gehölzen am Fluss wird als effektive Maßnahme angesehen, die Wasserspeicherfähigkeit des Bodens wieder zu erhöhen, Überschwemmungsbereiche bereitzustellen, Kaltluftentstehung zu fördern und Pufferzonen zum Gewässer zu schaffen. An den Randlagen wird der Anbau von Gemüse und Futtermittel angesehen. Die Klimakulturlandschaft zeichnet sich auch durch eine nachhaltige Viehhaltung in den Tälern aus.

Als geeignete Gemüsesorten mit regionaler Nachfrage haben sich Kohl und Lauch ergeben, weiterhin Futtermittel wie Mais, Landsberger Gemenge und Grünschnittroggen, die sich auch besonders als Vor- und Zwischenfrucht in der Fruchtfolge eignen. Um der hohen Nachfrage an Getreide gerecht zu werden, wird der Anbau auf den Randlagen beibehalten, jedoch auch hier mit Untersaat ergänzt. Im Zusammenhang zunehmender Oberflächentemperaturen auf großen Ackerflächen ist die Ausbildung von Frischluftkorridoren entlang der Tal- und Auenbereiche (in West-Ost-Richtung) mithilfe von Gehölzpflanzungen sinnvoll. Nur so können warme Luftmassen zügig abtransportiert und eine sommerliche nächtliche Abkühlung gewährleistet werden.

Grafik: Green4Cities, Frischluftkorridore West-Ost-Richtung

Das Landsberger Gemenge ist eine Leguminosen-Gras-Mischsaat, die eine geeignete Vorfrucht in der Fruchtfolge darstellt, da sie für Stickstoffzufuhr und Humusbildung sorgt. Grünschnittroggen dient nach der Maisernte als eine kurzzeitige Zwischenfrucht, um im Frühjahr eine zusätzliche Futterernte einzufahren. So ergibt sich in dieser Typologie an den flussfernen Lagen ein beispielhafter Fruchtwechsel von Landsberger Gemenge, Lauch, Mais, Grünschnittroggen und Getreideanbau mit Untersaat. Durch das Fruchtfolgenmanagement initiiert soll sich langfristig dieser Fruchtwechsel jahresversetzt auch über Kannawurf hinaus in der Aue fortsetzen. Dabei können die Gemüsesorten je nach Nachfrage variieren.

Quelle: Green4Cities, Vorschlag Fruchtfolgen Aue

Klimagestaltungselement: Grünes Band

Das Grüne Band strukturiert die Schläge, erhöht die landschaftliche und ökologische Vielfalt, vernetzt Biotope und dient dem Erleben der Landschaft. Der Verlauf ist so konzipiert, dass darin vor allem erosionsgefährdete und ökologisch wertvolle Flächen wie vernässte Bereiche gesichert werden und das Band so vorrangig dem Boden- und Gewässerschutz dient. Für die Erholungsfunktion sind bereits vorhandene Bewirtschaftungswege integriert und neue Feldwege geschaffen, um attraktive Rundwege vom Dorf aus zu ermöglichen. So zieht sich das Grüne Band auf den Hängen parallel zu den Höhenlinien, an den Flussläufen entlang und über Kuppen. Es besteht aus Grünland, ökologischen Vorrangflächen und Streuobstwiesen, wird gesäumt von Baumreihen, Feldgehölzen und Ackerkräutern.

Quelle: Green4Cities, Wegeverlauf Grünes Band entlang der Hangzone

Quelle: Green4Cities, Grünes Band als Erholungs- und Biotopraum

Klimagestaltungselement: Keylines

Keyline-Design ist eine Methode für ein nachhaltiges Niederschlagsmanagement auf Ackerflächen. Sie ermöglicht, dass landwirtschaftliche Flächen konstant mit Wasser versorgt und bei einer Anwendung im größeren Stil sogar ganze Landschaften abgekühlt und die Regenwahrscheinlichkeit erhöht werden kann. Mit einem einscharigen Wendepflug werden in erforderlichen Abständen hangparallele Erdrinnen in den Boden gepflügt, die das abfließende Regenwasser auffangen und stauen. Kombiniert mit kleinen Wasserbecken, daran aufgereihten Feld- und Nutzgehölzen zur Verschattung und Stabilisierung wird die Erosion der dazwischen liegenden Ackerflächen vermindert, die Wasserspeicherkraft des Bodens und die Biodiversität erhöht, das Mikroklima positiv beeinflusst und ein einzigartiges Landschaftsbild erzeugt.

Seit 2022 wird auf einer acht Hektar großen Versuchsfläche der Landwirtschaft Kannawurf Betriebsgesellschaft GmbH von der Deutschen Agroforst GmbH fünf unterschiedliche „Keylines-Strukturen“ umgesetzt. Eine Studie der Tractebel Hydroprojekt GmbH ergab eine Minderung der Bodenerosion um bis zu 60 Prozent. Bei einer Umsetzung im größeren Stil können sogar ganze Landschaften abgekühlt und damit die Regenwahrscheinlichkeit erhöht werden. Die Analyse der Teileinzugsbereiche von Niederschlägen zeigte, dass diese nicht mit den Schlägen identisch sind. Die Fließwege liegen teils in vorhandenen Gräben oder zwischen den Schlägen auf den Bewirtschaftungswegen. Keylines können die Wasserleitung und Fließgeschwindigkeit verändern. Ihre Struktur bildet die Basis einer zukunftsfähigen Klimakulturlandschaft. Für eine gesteigerte Wirkung können sie vielfältig mit Grünstreifen, Gehölzen wie Haselnussträuchern und/oder Ackerstauden kombiniert werden. Eine Kombination aus Keylines mit Agroforst ist die effektivste Kombination.

Ziel auf den Hangzonen ist es, mit Keylines die Landschaft zu strukturieren, den Hangabfluss zu unterbrechen, die Wasserspeicherkraft zu erhöhen und die ökologische Vielfalt zu befördern. Dadurch wird nicht nur die Wasserbilanz der Agrarwirtschaft nachhaltig verbessert, sondern auch die Landschaft als Klimakulturlandschaft neu gestaltet und ein neuer Lebensraum für Pflanzen und Tiere ermöglicht. Schon heute leben Rebhühner und Hasen in den Keyline-Strukturen.

Für die Leute. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Für die Leute. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Peter Moltmann

„Weil man auch sieht, was das eigentlich für ein vielseitiger, anspruchsvoller und vor allem für alle lebenswichtiger Beruf ist." Peggy Hessler

Eine abwechslungsreichere und gesündere Landwirtschaft dürften viele als einen Zugewinn an Lebensqualität erleben. Neben Aspekten der Landschaftsästhetik, der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes könnte die Leute aber auch interessieren, welche konkreten Zukunftsperspektiven sich ihnen erschließen können. Eine Umstellung auf eine größere Vielfalt auf den Anbauflächen der Agrarbetriebe und der Aufbau regionaler Verkaufsstrukturen kann sicherlich einige Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Vertrieb schaffen. Öffnen sich darüber hinaus aber auch neue Wege für unabhängige Kleinbauern und Gärtner? Lassen sich im Rahmen des geplanten überbetrieblichen Fruchtfolgenmanagements Strukturen etablieren, über die auch deren Produkte vertrieben werden können? Wenn das gelänge, könnte es auch Junglandwirten wie Johannes und in wenigen Jahren auch Klaus Hessler neue Anreize bieten, das familiäre Land selbst zu bestellen.

Im selben Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Etablierung eines Hofladens denkbar wäre, der das Bedürfnis nach lokal erzeugter Ware deckt, indem er neben den Produkten der Landwirtschaftsbetriebe als auch die der Kleinerzeuger vertreibt. Eine Voraussetzung wäre, dass die Preise von den Kannawurfern bezahlt werden können und zugleich den Erzeugern, bei möglichst wenig Bürokratie, eine Gewinnspanne ermöglichen. Dafür wäre ein spezielles Warenprofil von Vorteil, das die lokalen Produkte von denen der Supermärkte abhebt. Neben Regionalität und Saisonalität könnte ein Kriterium die überprüfbare Herstellung sein, die unter anderem Brita Hochheim bei der Supermarktware vermisst. Vielleicht könnten auch umliegende Ortschaften im Rahmen eines solidarischen Konzepts per Gemüsekisten-Lieferservice versorgt werden.

Kommunikation: Zukunft
Kommunikation

Gestaltung neuer Verbindungen

Nur wer die Landschaft kennt, kann ein kritisches Bewusstsein für deren Nutzung und Bewirtschaftung entwickeln und sie wieder schätzen lernen. Dies kann über die bewusste Gestaltung von Land(wirt)schaft selbst, aber auch über ihre Erlebbarkeit erfolgen. Ein zusammenhängendes Wegenetz im Grünen Band in der Klimakulturlandschaft mit neuen und wiederbelebten Verbindungen zwischen den Dörfern, die sich an den Bedürfnissen von Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen orientieren, bietet eine erste Zugänglichkeit. Dabei spielt Saisonalität für die Wegeführung und -gestaltung eine zentrale Rolle: offene Wege mit sonnigen Verweilräumen sind im Winter und Frühjahr attraktiv, verschattete eher im Sommer. Die landschaftliche Gestaltung des Grünen Bands kann dieses saisonale Erleben bewusst durch die Wahl jahreszeitlich abgestimmter Blüheffekte von Gehölzen gezielt unterstützen.

Quelle: Green4Cities, Gestaltungsvorschlag Wegenetzverbindung

Tradiertes oder neues Wissen und Erfahrungen bedürfen aktiver Kommunikation und gemeinschaftlicher Ereignisse. Geführte Wanderungen und Spaziergänge mit Fachspezialisten machen die Komplexität und Zusammenhänge des Öko- und Agrarsystems begreifbar. (Kultur-)Veranstaltungen auf dem Feld, gezielte Inszenierungen der Landschaft und ihrer Elemente tragen dazu bei, dass sich ein breites Publikum mit der umgebenden Kulturlandschaft neu auseinandersetzt und der emotionale Bezug gestärkt wird.

Lokale Interessen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Lokale Interessen. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Peter Moltmann

"Außer hin und wieder einen Eisbergsalat oder Kohlkopf kaufen wir kein Gemüse zu." Traudel Wachmuth

Die Jungpflanzen aus den Gewächshäusern ziehen die Leute in ihren Gärten groß. Auch wenn deren Zahl abgenommen hat, ist die Subsistenzwirtschaft noch nicht tot. Die Hesslers, die Hochheims und die Wachmuths bauen einen Teil des saisonalen Gemüsebedarfs selbst an. „Wie‘s zur Jahreszeit anfällt,“ sagt Ernst Wachmuth. Wo an den Wegen noch Bäume stehen, pflücken sie Äpfel, Kirschen und Pflaumen. Für den Winter wecken sie ein. Auch die Streuobstwiese bietet zu 100% ungespritzte Äpfel, Birnen, Pflaumen, Mirabellen und Kirschen. Die Idee eines "Grünen Bandes", das sich als Erosionsschutz durch die Felder zieht und zugleich bestehende Landschaftsmerkmale wie zum Beispiel die Rabenhütte, eine ehemalige Sandgrube und zugleich Biotop für verschiedene seltene Arten, und die letzten alten Plantagen miteinander verbindet, würde Silvio Reinsch zusagen.

Viele Kannawurfer decken sich auch im Obstbau des benachbarten Kindelbrück mit Vitaminen ein. Während das Kannawurfer Umland durch die Felder geprägt ist, stehen hier, wie Rebstöcke auf einem Weinberg, hunderttausende Apfelbäume in Säulenform. Die Plantagen, erzählt Vorstandsmitglied Axel Swoboda, wurden in den 1970er Jahren angelegt. Nachdem jahrzehntelang nahezu ausschließlich der überregionale Einzelhandel beliefert wurde, gelang es dem Obstbau vor wenigen Jahren, die Erdbeer- und Spargelproduktion komplett auf regionalen Verkauf umzustellen. Axel Swoboda verzeichnet ein wachsendes Interesse an lokalen Produkten. „Die Leute haben gesagt: Der Kindelbrücker Spargel schmeckt, weil er eben durch den Mineralgehalt eine gewisse Würzigkeit entwickelt. Und da ist mir auch egal, wenn die Stange mal ein bisschen krumm ist.“

Entwicklung künstlerischer Interventionen

Im Rahmen der Machbarkeitsstudie wurde das Konzept eines „Landschaftsobservatoriums“ als künstlerische Sehhilfe und Intervention vor Ort entwickelt, um für die Veränderungen in der Landschaft zu sensibilisieren und das neue Leitbild der Klimakulturlandschaft zu vermitteln. Als Standort wurden zwei große  Betonfundamente aus der Zeit des 2. Weltkriegs in der Aue ausgewählt. Sie stehen in Blickbeziehung und im Dialog zueinander. Nach dem Prinzip der Lochkamara projiziert das eine Observatorium die Land(wirt)schaft nach innen und das andere ermöglicht mit verändertem Glas einen neuen Blick auf die Land(wirt)schaft nach außen. Die Fundamente werden dazu pyramidenförmig ergänzt und werden dadurch von weitem sichtbar. Mit einer neuen Wegeverbindung zwischen Kannawurf und Kindelbrück werden beide Installationen erschlossen, neu installierte Wegweiser sollen darauf hinweisen und Informationstafeln das Projekt erläutern.

Die Entstehung der Keyline-Strukturen wird mit einer landschaftskünstlerischen Installation „Windangel“ und drei Soundscapes „Fields“ des Künstlers Wieland Krause begleitet. Sie reflektieren das Zusammenwirken der Elemente auf dieser Fläche und verweisen auf die erweiterte landschaftliche Umgebung.

Landwirtschaft als Lernort. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Landwirtschaft als Lernort. Peter Moltmann im Gespräch mit den Kannawurfer:innen

Peter Moltmann

„Kannawurf ist das beste Dorf, mit dem Schloss... die Kiesgrube, dann noch der Sportplatz, die Freiwillige Feuerwehr, das ist eben alles... das Beste an Kannawurf.“ Klaus Hessler, Luca Knauf und Maurice Koppo

Ein Spielplatz aus Holz, den sich die Kinder selbst bauen. Mit einer Wand aus Obstbäumen drum herum, die die gefährlichen Tiere draußen halten und von denen man naschen kann. Maurice Koppos Konzept eines Holzspielplatzes ist eine schöne Idee. Herausfordernde Umgestaltungskonzepte wie das "Grüne Band" zwischen den Feldern oder die von Stefan Wagner ins Gespräch gebrachte teilweise Renaturierung der Wipper würden die Sinnlichkeit der Landschaft aus Elisabeth Ernsts und Ernst Wachsmuths Kindheitstagen neu aufleben lassen und neue Spiel- und Beobachtungsräume schaffen. Eine modellhafte Landwirtschaft bietet sich Kindern und Schulen auch als Ort des Lernens an, über Feld- und Ackerbau, Feldfrüchte und Wildblumen, Insekten und Vögel, und über die Wechselwirkungen zwischen einer intakten Natur und einer ökonomischen Landwirtschaft.

Zusammen mit dem bereits vorhanden Kulturangebot, zu dem ab 2021 auch der Renaissancegarten des Kannawurfer Schlosses zählen wird, kann diese Landschaft auch Erholungsurlauber:innen und Bildungsreisende anziehen und somit den Gastronomie- und Übernachtungssektor stärken. Und solange Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten vorhanden sind, kann sie jungen Familien neue Anreize geben, sich hier niederzulassen. Dann können, wenn die alten Häuser saniert sind, vielleicht auch die neuen Häuser gebaut werden, die Luca Knauf vorschlägt.

Kooperative Planung vom Konzept bis zur Umsetzung

Wie kann Landschaft im Sinne von Landwirtschaft neu sortiert, gedacht, organisiert, gestaltet und vermittelt werden? Diese und weitere Fragen standen am Anfang des transdisziplinären Kooperationsvorhaben zwischen zwei Landwirtschaftsunternehmen, der Internationalen Bauausstellung Thüringen und dem Künstlerhaus Thüringen e.V. Mit zahlreichen Akteur:innen wurde in Workshops, öffentlichen Veranstaltungen, in Teilstudien und anhand von Interviews ein gemeinsames Konzept für die Landwirtschaft des 21. Jahrhundert entwickelt. Im Ergebnis ist aus dem Kooperationsvorhaben eine ganzheitliche Kooperationsidee entstanden. Im Jahr 2022 beginnt die gemeinsame Umsetzung von Teilideen des Konzeptes. Auf ausgewählten Flächen werden die ersten Klimalandschaftstypologien und das Keylines-Design erprobt sowie erste Grundsteine für das überbetriebliche Fruchtfolgenmanagement gelegt. Ein erstes Ergebnis des "Reallabors" wird im Jahr 2023 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Thüringen öffentlich vorgestellt.

Status Quo
Zukunft

Förder:innen:

Die Machbarkeitsstudie wird gefördert im Rahmen der Zusammenarbeit in der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft (LFE) durch Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums: Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete (ELER) und den Freistaat Thüringen, 2019-2021

Partner:innen:

Koop-Kannawurf:
Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH mit dem Künstlerhaus Thüringen e.V., Landwirtschaft Kannawurf Betriebsgesellschaft mbH und der agrar-GmbH Oldisleben

vertreten durch die
Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH
Auenstraße 11
99510 Apolda

Telefon +49 3644 518 320
Fax +49 3644 518 32 29
info@iba-thueringen.de
www.iba-thueringen.de

Geschäftsführung:
Dr. Martina Doehler-Behzadi

Vorsitzender des Aufsichtsrates:
Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff

Sitz Apolda
Amtsgericht Jena, HRB 507526
Steuernummer 162/111/05651

Impressum:

Projektleitung:
Kerstin Faber, IBA Thüringen, Apolda

Konzept Studie:
Bernhard König und Lisa Maria Enzenhofer mit Katharina Sauermann, Michela Thaler, Sofia Inghilleri, Green4Cities GmbH, Graz/Wien, A

Ökologische Beratung:
Birgit Birnstingl, Sekem Energy GmbH, Hitzendorf, A

Projektberatung:
Claudia Siebeck, quartier vier, Leipzig

Projektbegleitung:
Roland Lange, Künstlerhaus Thüringen e.V., Kannawurf
Stefan Michel, Künstlerhaus Thüringen e. V. Kannawurf
Dr. Frank Augsten, Thüringer Landesamt für Landwirtschaft und Ländlicher Raum, Jena
Edgar Reisinger, Naturforschende Gesellschaft Altenburg, Jena

Hydrologische Studie:
Mohamad Sadaghiani, Tractebel Hydroprojekt GmbH, Weimar

Künstlerisches Konzept Landschaftsobservatorium:
Wieland Krause, Halle (Saale)
Roland Lange, Kannawurf

Beratung und Workshop Keylines:
Phillip Gerhardt, Forstwirt und Geschäftsführer Baumfeldwirtschaft, Brück

Beratung Klima:
Prof. Dr. Lutz Katzschner, Stefan Kupski, INKEK GmbH, Lohfelden/Kassel

Interviews und Fotos Kannawurfer:innen:
Peter Moltmann, Kannawurf

Webseite:
Lamm + Kirch, Knoth&Renner, Berlin/Leipzig